Über das Lernen

Die Erfahrungen, die wir nach unserer Geburt sammeln und bewusst sowie unterbewusst in unsere Persönlichkeit aufnehmen, werden Bildung genannt.
Bildung hat aber auch eine andere Bedeutung, nämlich die des Lernwegs. Und das Lernen spielt auf unserem Weg eine essentielle Rolle. Dabei ist es nicht nur wichtig, dass wir überhaupt lernen, sondern auch, was wir lernen sowie die Art und Weise, wie wir dies tun.
Denn Lernen ist nicht nur ein persönliches, sondern auch ein gesellschaftliches Thema. Jede Disziplin hat ihre Meister und ihre Schüler. Das macht Bildung zu einem Thema, mit dem sich die Gesellschaft ganzheitlich auseinandersetzen muss, um sowohl das Beste für das Individuum als auch für unsere sozialen Strukturen zu erreichen.

Der beste Lehrer ist ein lebenslanger Schüler.

Die Wechselbeziehungen zwischen jenen, die Wissen vermitteln, und jenen, die Wissen empfangen, also z. B. Lehrer und Schüler, Eltern und Kindern, ältere und jüngere Geschwister usw., sind in den letzten Jahren stark vernachlässigt worden. In westlich geprägten Gesellschaften haben die Freiheit des Individuums und die Auslebung der Persönlichkeit dafür einen großen Stellenwert eingenommen. Teils ist dieses Bestreben aber über sein Maß hinausgeschossen und behindert nun das allgemeine Lernen und die gesellschaftliche Ordnung.

Diese Abhandlung soll sich also damit beschäftigen, warum und wie wir lernen sollten, wer uns dabei helfen kann und wie sich Lehre und der daraus resultierende Rang in der Gesellschaft manifestieren sollten.

1. Der Sinn des Lernens für das Individuum

Da das Lernen eng mit dem Ideal des Menschen verknüpft und tief in der menschlichen Natur verankert ist, soll an erster Stelle festgestellt werden, welchen Sinn das Lernen für den Menschen hat.

Denn das „Höher, schneller, weiter“, welches wir als Motto der Olympischen Spiele kennen, ist für den Menschen seit jeher sinnstiftend. Das Streben nach Fortschritt, nach Verbesserung und Veränderung gilt ausnahmslos für jeden Menschen.

Dazu bei Laozi Kapitel XI ():

Dreißig Speichen treffen sich in der Nabe; in ihrer Leere liegt der Nutzen des Rades.
Aus Ton formt man ein Gefäß; in seiner Leere liegt der Nutzen des Topfes.
Türen und Fenster höhlt man für ein Haus; in ihrer Leere liegt der Nutzen des Raumes.
Darum: Das Vorhandene bringt Gewinn, doch das Nichtvorhandene schafft den Nutzen.

Konstante Weiterentwicklung kann dem Menschen einen Lebenssinn geben, seine Natur befriedigen und ihn auf dem Weg zur besten Version von sich selbst machen.

Des Weiteren sollte der Mensch sich im Laufe seines Lebens auf der Suche nach dem bildungsartigen Äquivalent zu seinen naturgegebenen Eigenschaften befinden. Dazu wurden bereits an anderer Stelle Erläuterungen gegeben. Um dieses Äquivalent zu finden, muss der Mensch lernen. Denn nur so kann er Erkenntnisse über Neues gewinnen, diese mit seiner Natur abgleichen und letztendlich Maß und Mitte in sich selbst finden.

Diese – im Optimalfall vollständige – Realisierung des Selbst, also das Finden von Maß und Mitte, bringt eine Vielzahl an erstrebenswerten Eigenschaften mit sich. Dazu zählen nicht nur ein gewisses Maß an Zufriedenheit und Stabilität, sondern auch die Fähigkeit, authentisch Lehren zu vermitteln.

Dazu im Buch von Maß und Mitte XXII ():

Nur wer auf Erden die höchste Wahrhaftigkeit erreicht, kann seine Natur voll entwickeln.
Wer seine Natur voll entwickeln kann, der kann auch die Natur anderer Menschen zur Entfaltung bringen.
Wer die Natur anderer Menschen zur Entfaltung bringen kann, der kann auch die Natur der Tiere und Dinge erfassen.
Wer die Natur der Tiere und Dinge erfassen kann, der kann (…) schöpferisch tätig sein.

Hervorzuheben ist auch, dass eine gründliche Bildung – in jedem Sinne – den Menschen durch die daraus resultierende persönliche Stabilität weniger anfällig für Manipulationsversuche macht. Außerdem befähigt sie den Menschen, in sozialen Beziehungen besser zu funktionieren. Denn in diesen sollte in der Regel eine wechselseitige Beziehung bestehen, also eine Beziehung, in der sowohl gegeben als auch genommen wird. Dies führt langfristig zu Sittlichkeit und gesellschaftlicher Stabilität.

2. Herausforderungen im Lernen für das Individuum

Obgleich das Lernen für den Menschen und das Erreichen des Ideals essenziell ist, gibt es doch viele, die nicht im richtigen Maße lernen. Häufig begründet sich dies darin, dass in der Umgebung des Menschen keine Bildungsmöglichkeiten existieren oder diese bewusst nicht zur Verfügung gestellt werden, um die Bildung einzuschränken.

Aber auch wenn es für den Menschen keine externen Gründe gibt, sich nicht zu bilden, findet der Mensch doch genug Gründe, um sich des Lernens zu erwehren. Die Ursachen hierfür liegen oft in einfacher Charakterschwäche.

Dazu bei Konfuzius VI, 12:

Ran Qiu sagte: „Nicht, dass ich an der Lehre des Meisters keinen Gefallen fände – nur, meine Kräfte reichen dafür nicht aus.“
Konfuzius erwiderte: „Reichen die Kräfte nicht aus, so gibt man auf halber Strecke auf. Du aber machst dich gar nicht erst auf den Weg.“

Das Lernen geht nämlich mit vielen Fehltritten und Misserfolgen einher. Wie bereits an anderer Stelle erläutert (siehe: Über das Fehlermachen), kann nichts von Beginn bis zum Ende ohne Fehler gelernt werden. Besitzt ein Mensch also keine natürliche Toleranz gegenüber Fehlschlägen oder keinen Willen, diese Fehlertoleranz zu entwickeln, wird das Lernen für das Individuum zu anspruchsvoll. Dies gilt, zur Verdeutlichung, genauso sehr für das Erlernen von Schach wie auch von Boxen, des öffentlichen Rechts usw. usf.

Während die wichtigsten Gründe nun abgearbeitet sind, soll Erwähnung finden, dass zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Abhandlung (2025) ein Teil der Gesellschaft bewusst echtes Lernen ablehnt, da sich über das Lernen und die Bildung ein falsches Bild etabliert hat. Dieses Bild sieht wie folgt aus: Zu jedem Thema gibt es eine Unzahl an vertretbaren Perspektiven. Jede dieser Perspektiven hat denselben Wert, und „wahre Bildung“ besteht in der Akzeptanz dieser Unendlichkeit der Perspektiven. Dieses Bild, also diese Auffassung von Bildung, ist grundsätzlich fehlerbehaftet. Denn es kann einem Menschen weder Sicherheit noch Identität geben – zwei Dinge, nach denen Menschen grundsätzlich streben und, auf der Suche nach Wahrhaftigkeit, auch streben sollten. Stattdessen fühlen sich immer mehr Menschen verloren im Meer der unendlichen Meinungen, Fakten usw. Als Resultat finden sich stets mehr Menschen, die sich Lehren hingeben, welche nicht auf Weisheit, sondern auf dem Vertreten von extremen, wenig nuancierten, aber gut verständlichen persönlichen Standpunkten beruhen.

3. Der Sinn des Lernens für die gesellschaftliche Ordnung

Akzeptieren wir das Lernen vollständig, führt dies nicht nur zu einem Nutzen für das Individuum, sondern auch für die Gesellschaft. Diese beiden Bereiche wurden, gerade in westlichen Zivilisationen, in den letzten Jahrzehnten stark getrennt, obgleich das Subjekt immer nur in Verbindung zu sozialen Gruppen existieren kann. Jederzeit spielt der Mensch eine Rolle, die ihm Verantwortung zuweist und im Gegenzug Sicherheit und Sinn verspricht. Das Ablehnen solcher sozialen Rollen macht einen Menschen zum Außenseiter, da er ab diesem Punkt nicht mehr in Beziehung zu anderen Menschen steht.

Dazu bei Xunzi im Buch der Riten IX, 19 ():

Der Mensch bedarf der Kooperation; alleine ist er schwächer als Pferde und Ochsen.

Eine Gesellschaft trägt seit jeher die Verantwortung der Wissensweitergabe, der gesellschaftlichen Sicherheit und der Harmonie zur Erhaltung des Selbst und der Kultur. Die zwischenmenschliche Kooperation bedarf nun aber einer gewissen Ordnung, gerade im Kontext des Lernens. Denn dies macht das Lernen – wie an späterer Stelle noch genauer erläutert werden soll – um ein Vielfaches einfacher.

Für das Lernen von anderen Menschen ist eine gewisse menschliche Zwischendynamik zwingend. Während wir von allen Menschen lernen können, existieren in den häufigsten Fällen die Rollen von Lehrern und Schülern. Eine solche Dynamik kann unterschiedlichste Formen annehmen, beispielsweise Eltern – Kinder, ältere Geschwister – jüngere Geschwister, Professor – Student usw. In diesen Szenarien ist jede involvierte Person mehr als nur ihr Geist (aus dem Russischen: ум). Der Mensch ist dabei eben auch die Person, die sich aus der zwischenmenschlichen Dynamik ergibt, bekommt also eine Rolle oder einen Rang zugeteilt (aus dem Russischen: чин). Diese Dynamiken erleichtern es dem Menschen, sich in eine bereits existierende Ordnung einzufügen, vorhandene Verantwortungen zu übernehmen und gewisse Pflichten zu erfüllen.

Dazu in Puschkins Postmeister ():

In der Tat – wohin kämen wir, wenn statt der allgemeingültigen Regel: Rang soll Rang achten, eine andere eingeführt würde, zum Beispiel: Geist soll Geist achten? Was für ein Streit würde dabei entstehen! Und bei wem sollten dann die Diener mit dem Auftragen der Speisen beginnen?

Um eben jenen Streit zu vermeiden, von dem Puschkin spricht, ist es wichtig, eine stabile Ordnung zu etablieren, in der jeder Mensch seine Grenzen achtet und somit eine harmonische Kooperation innerhalb gesellschaftlicher Strukturen ermöglicht.

Eine solche gesellschaftliche Ordnung führt also zu bestimmten Rollen, die ein Mensch ausfüllen muss. Diese verleihen dem Menschen Verantwortung und Ansprüche gegenüber anderen Teilnehmern der Gesellschaft. Das macht es für das Individuum und für alle Menschen, mit denen das Individuum in Beziehung steht, einfacher, einander einzuordnen. Dadurch kann ein Grundvertrauen gegenüber anderen Menschen aufgebaut werden, was die Kooperation erleichtert und alle Menschen innerhalb einer Gesellschaft gewissermaßen unter einem Banner vereint. Denn wenn eine stabile Rollenverteilung existiert und untereinander Vertrauen herrscht, arbeiten alle gemeinsam für das Wohl der Gesellschaft, der sie sich zugehörig fühlen.

Nach konfuzianischem Vorbild gibt es fünf Arten von Beziehungen: die zwischen Vater und Sohn, älteren und jüngeren Brüdern, Freund und Freund, romantischen Partnern (traditionell Mann und Frau) sowie Herrscher und Untertan. Die Grundbeziehung zwischen Vater und Sohn ist Anhänglichkeit, die zwischen älteren und jüngeren Brüdern die Beachtung des Rangunterschieds, die zwischen Freunden Treue, die zwischen Mann und Frau die Beachtung der unterschiedlichen Aufgaben, die zwischen Herrscher und Untertan Rechtschaffenheit. Werden diese Rollen beachtet, zeichnet sich das Verhalten zwischen Menschen also durch Anhänglichkeit, Respekt, Treue, Ordnung und Rechtschaffenheit aus.

4. Die Herausforderungen einer gesellschaftlichen Ordnung

Dem Konzept von „Rang achtet Rang“ oder „Rolle achtet Rolle“ wird schon bei Puschkin das Konzept von „Geist achtet Geist“ entgegengestellt. Dieses liberale Konzept eröffnet eine Perspektive zu potenziellen Probleme mit einer stark rollenbasierten Gesellschaft bietet allerdings keine wirklichen Lösungsvorschläge für gesellschaftliches Zusammenleben und setzt utopische menschliche Voraussetzungen für die tatsächliche Auslebung einer solchen Einstellung .

In diesem Bild wird vorgeschlagen, die gesellschaftlichen Rollen und Ränge von Menschen vollständig auszumerzen und einander vollständig unabhängig von gesellschaftlichen Umständen zu achten, vertrauen und unterstützen. Die Basis für Harmonie ist nur der Geist, die Persönlichkeit, der Verstand, das reine Mensch-Sein.

Während in den letzten Jahrzehnten eine solche „Gesellschaftsordnung“ durch viele politische Bewegungen, die gegen gesellschaftliche Rollen argumentierten, angestrebt wurde, hat dies nur zu Unordnung und Überforderung geführt. Denn eine rollenbasierte Gesellschaftsordnung, die jedem Menschen einen Platz bietet, in welchen er sich einfügen kann, macht es dem Menschen sehr einfach, einen gewissen Teil seiner Bildung mit dieser Rolle auszufüllen und sich im Übrigen um seine individuellen Bedürfnisse zu kümmern. Ohne diese Rollen aber schwebt der Mensch gewissermaßen in der Leere und muss sich seinen Platz in der Gesellschaft und für sich persönlich aus dem Nichts kreieren. Diese Aufgabe nimmt in der menschlichen Lebensspanne einen riesigen Platz ein und erfordert extrem viel Zeit und Anstrengung, die in die Bildung des Menschen fließen sollte.

Ein solches Konzept von „Geist achtet Geist“ erwartet vom Menschen ein utopisches Maß an Zeit, Kapazität und Lust, sich mit Dingen zu beschäftigen, die ihn nicht nach vorne bringen, sondern in einem ständigen Stadium von Unsicherheit halten. Während dieses Konzept also keinem schädlichen Gedanken entspringt, ist es dennoch unrealistisch, solcherlei Erwartungen an Menschen zu haben und so die Gesellschaft in Einklang bringen zu wollen.

Ein Beispiel: Ein Elternteil entledigt sich der Rolle des Elternseins. Das Kind wird dem Elternteil gleichartig behandelt und soll sich fortan um die Probleme des Elternteils genauso sehr kümmern wie das Elternteil sich um die Probleme des Kindes kümmert. Versteht das Kind also eine Laune des Elternteils nicht, leistet es im Verständnis des Elternteils „schlechte Unterstützung“. Möchte das Kind also beispielsweise den ganzen Tag Serien ansehen, sind seine Wünsche gegen jede Vernunft zu respektieren.

Dieses Beispiel soll wohl zur Genüge erläutern, weshalb die Rollenverteilung beispielsweise innerhalb des sozialen Gefüges der Familie so wichtig ist. Sie schafft Ordnung und ermöglicht ein harmonisches, reguliertes Zusammenleben. Das Auflösen von Rollen hingegen führt zu absolutem Chaos, da hier Ungleiches wie Gleiches behandelt werden soll.

Eine weitere Herausforderung der gesellschaftlichen Ordnung ist das menschliche Ego und der – meist falsche – Stolz.

Dazu bei Tolstoi in Krieg und Frieden ():

Jeder denkt von sich, er sei ein ganz besonderer Mensch, und der Gedanke ist ihm teuer.

Viele Menschen sind der Überzeugung, im ein oder anderen Sinne besser als der Rest zu sein – eine Überzeugung, die die Kooperation zwischen Menschen stark behindert. In diesem Fall besteht nämlich die Überzeugung, nicht in direkter Verbindung zu anderen Menschen zu stehen. Außerdem macht diese Überzeugung es schwer, sich einer gewissen Rolle zugehörig zu fühlen, da betreffende Menschen der Überzeugung sind, sie seien zu gut für die Rolle oder die Rolle limitiere den Menschen in irgendeinem Sinne.

In diesem Fall gibt es zwei mögliche Szenarien:

  1. Der Mensch ist nicht besser als alle anderen Menschen, grenzt sich trotzdem von ihnen ab und wird zum sozialen Außenseiter. Damit schadet er sich selbst und der Gesellschaft, denn er selbst wird einsam und der Gesellschaft fehlt ein Glied.
  2. Der Mensch ist tatsächlich besser als alle anderen Menschen, grenzt sich also von ihnen ab und wird zum sozialen Außenseiter. Damit schadet er sich selber und der Gesellschaft, denn er selber wird einsam und der Gesellschaft fehlt ein Glied.

Dazu bei Dostojewskij in den Brüdern Karamazov ():

Viele der Mächtigen und Großen dieser Welt wähnen sich Menschenfreunde, doch in Wahrheit sind sie nur seine Peiniger. Sie träumen davon, große Männer zu werden, doch mangelt es ihnen an wahrem Edelmut. Dabei hätten sie gute Väter sein können, ehrliche Handwerker oder demütige Arbeiter — doch sie verwerfen diese schlichten, edlen Pfade, um Hirngespinsten nachzujagen. Und so werden sie zu nichts, denn sie verachteten das Kleine, aber Wirkliche.

Daran anschließend bei Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse ():

Wer nicht im Verkehr mit Menschen gelegentlich in allen Farben der Noth, grün und grau vor Ekel, Überdruss, Mitgefühl, Verdüsterung, Vereinsamung schillert, der ist gewiss kein Mensch höheren Geschmacks; gesetzt aber, er nimmt alle diese Last und Unlust nicht freiwillig auf sich, er weicht ihr immerdar aus und bleibt, wie gesagt, still und stolz auf seiner Burg versteckt, nun, so ist Eins gewiss: er ist zur Erkenntniss nicht gemacht, nicht vorherbestimmt. Denn als solcher würde er eines Tages sich sagen müssen „hole der Teufel meinen guten Geschmack! aber die Regel ist interessanter als die Ausnahme, — als ich, die Ausnahme!“ — und würde sich hinab begeben, vor Allem „hinein“. Das Studium des durchschnittlichen Menschen, lang, ernsthaft, und zu diesem Zwecke viel Verkleidung, Selbstüberwindung, Vertraulichkeit, schlechter Umgang — jeder Umgang ist schlechter Umgang ausser dem mit Seines-Gleichen —: das macht ein nothwendiges Stück der Lebensgeschichte (…) aus (…).

Es wird also ersichtlich, dass ein geordnetes Gesellschaftssystem, mit verteilten Rollen und einem Gesellschaftsbewusstsein für das Individuum sinnstiftend und für die Gesellschaft stabilisierend wirkt. Diese beiden Effekte wirken wiederum aufeinander ein.

5. Voneinander lernen

Da nun der Nutzen des Lernens für das Individuum und die Gesellschaft offengelegt wurde, widmen wir uns dem tatsächlichen Lernen voneinander. Im Kontext der etablierten Ordnung von „Rang achtet Rang“ wird im Folgenden darin unterschieden, von den Stärkeren und von den Schwächeren zu lernen. Dies bezieht sich immer auf den Rang eines Individuums innerhalb einer bestimmten Domäne. Beispielsweise im Kraftsport ist es der physisch Stärkere, innerhalb der Familie das Familienoberhaupt, im Militär der verliehene Rang etc. Die Bezeichnung „stärker“ oder „schwächer“ ist also vollständig abhängig von der Art der Beziehung der beiden zu vergleichenden Subjekte.

Es sei im Vorhinein bemerkt, dass das Lernen voneinander und miteinander unbedingt nötig ist. Gerade weil es unbedingt nötig ist, sich selbst ständig zu überprüfen. Beispielsweise das Diskutieren mit Menschen bietet dafür eine perfekte Basis. Das Diskutieren lehrt den Menschen, ob er im Recht oder im Unrecht ist. Entweder sein Punkt wird weiter gefestigt oder er kann seine eigenen Fehler hinterfragen und besser werden.

Dazu Konfuzius in den Gesprächen XI,4 ():

Was ich auch sage, Yan Hui ist damit sofort einverstanden. So hilft er mir nicht.

5.1. Lernen von den Stärkeren

In einer gut etablierten Gesellschaftsordnung ist sich der Mensch in der Regel seiner Position in Beziehung zu seinem Gegenüber bewusst. Ähnlich wie in einem Sportverein, in dem sich jeder darüber bewusst ist, wer der Trainer und wer der Lernende ist. Beispielsweise im Kampfsport ordnen sich häufig auch viel bessere Sportler dem Trainer unter. Dabei ist sich dennoch jeder seiner Fähigkeiten und Rolle bewusst. Ein Beleg für den Respekt in einer harmonischen Gesellschaft. Diese Positionierung zeichnet sich in Lernsituationen häufig durch ein hierarchisches Gefälle ab, welches dem Menschen das Lernen stark vereinfacht.

Denn akzeptiert ein Schüler seinen Lehrer als jemanden, der höher im Rang steht, kann der Schüler seinem Lehrer ein angemessenes Maß an Grundvertrauen entgegenbringen. Dieser verdiente Rang signalisiert dem Schüler also, dass nicht jedes Wort hinterfragt werden muss. Dies ist besonders wichtig, da Schüler gegebenermaßen Aufgaben durchführen müssen, deren Sinn sie sich (noch) nicht bewusst sind. Gäbe es in dieser Beziehung kein Grundvertrauen in Richtung des Lehrers, so mündete dies in grenzenloser Skepsis und behinderte jegliches Lernen stark .

Ein weiterer Aspekt, der im Lernen von den Stärkeren nicht vernachlässigt werden darf, ist der Aspekt der Sittlichkeit. In einer Gesellschaft sind unter Menschen bestimmte Regeln einzuhalten, nicht weil man dazu gezwungen wird, sondern weil es sich gehört. Gerade dann, wenn ein höherer Rang durch große Mühe, lange Erfahrung oder ähnliche Anstrengung erworben wurde, wird das Achten des Ranges zu einer Respektfrage. Es gehört sich in solchen Situationen, die eigene Meinung zurückzustellen und dem Ranghöheren zuzuhören.

5.2. Herausforderungen beim Lernen von Stärkeren

Auch in einer Gesellschaft mit ordnungsgemäß verteilten Rollen kann es selbstverständlich zu Problemen mit dem Lernen von Stärkeren kommen. Einige Gründe dafür sollen hier beleuchtet werden, um einige falsche Auffassungen des 21. Jahrhunderts aufzulösen.

Eine dieser Fehlannahmen ist das Erreichen von Wahrheit und Weisheit durch beständige Skepsis. In der Erklärung zum Konzept der persönlichen Wahrheit finden sich bereits die Probleme mit Skepsis und konformer Weisheit. Aufgrund der europäischen Bildungsstruktur ist ein, auf Zweifeln und unendlichen Perspektiven beruhendes Weltbild allerdings durchaus keine Seltenheit. In aller Kürze soll aber auch hier noch einmal erwähnt werden, dass, während sich die Unendlichkeit der menschlichen Perspektiven nicht verneinen lässt, die Weltansicht, jede Perspektive für vertretbar zu halten, zu grundsätzlichen Problemen mit Maß und Mitte führt. Dem Menschen ist es nicht möglich, auf diese Weise Stabilität und Ordnung zu erlangen, da er immer zwischen einer Vielzahl von Perspektiven schwankt.

Da die Skepsis, die aus solch einem unsicheren Weltbild resultiert, notwendigerweise auch bei zwischenmenschlichen Beziehungen zum Tragen kommt, beeinflusst dies auch die Fähigkeit von ranghöheren Menschen zu lernen. Denn Skeptiker müssen nötigerweise den Rang und die Lehre des Lehrers anzweifeln, bevor gelernt werden kann – ein zeitaufwendiges und häufig überflüssiges Unterfangen. Übermäßige Skepsis steht also Achtung und Grundvertrauen im Weg. Dadurch wird das Lernen stark erschwert.

Dazu bei Konfuzius in den Gesprächen VIII,16 ():

Konfuzius sprach: Entschlossenheit zeigen, aber die Geradlinigkeit vermissen lassen, dumm und zugleich uninteressiert sein, selbst nichts wissen, aber auch zu anderen kein Vertrauen haben – dafür fehlt mir das Verständnis.

Ein weiterer Grund für das Ablehnen des Lernens von Stärkeren ist die Einstellung, die von Friedrich Nietzsche in seiner Abhandlung „Genealogie der Moral“ von 1887 als „Sklavenmoral“ betitelt wird. Diese beschreibt eine Moralvorstellung, in der Stärke prinzipiell verdammt, große Macht als unrechtens dargestellt und argumentiert wird, die Menschen sollten eine große Masse von „schwachen aber guten Menschen“ sein.

Dazu bei Nietzsche in seiner Genealogie der Moral ():

Von der Stärke verlangen, dass sie sich nicht als Stärke äußere, dass sie nicht ein Überwältigen-Wollen, ein Niederwerfen-Wollen, ein Herrwerden-Wollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen sei, ist gerade so widersinnig, als von der Schwäche zu verlangen, dass sie sich als Stärke äußere.

Eine solche Überzeugung ist dem Lernen von Stärkeren stark hinderlich. Denn jegliches Machtgefälle wird als unrechtens behandelt und somit jegliche Lehre von „oben“ angefochten. Dies schränkt die Fähigkeit des Menschen, von jenen zu lernen, die durch lange Erfahrung, einen guten Ruf und ausgeprägte Fähigkeiten viel zu lehren haben, stark ein und kann das Vermitteln von Lehren vollständig unmöglich machen.

5.3. Lernen von den Schwächeren

In einer harmonischen Gesellschaft ist es Menschen nicht nur möglich, innerhalb starrer Gesellschaftsstrukturen von ranghöheren Menschen zu lernen. Auch von rangniedrigeren, „schwächeren“ Personen kann der Mensch jederzeit lernen.

Dazu Zeng-Zi in den Gesprächen VIII,5 ():

Früher hatte ich einen Freund, der so handelte:
Er hatte große Fähigkeiten, fragte aber auch die, die weniger konnten.
Er wusste viel, lernte aber auch bei denen, die weniger wussten.
Er war sich stets seiner Grenzen bewusst.
Voll von Wissen, hielt er sich dennoch für leer. Wurde er beleidigt, so störte ihn das wenig.

Die Gründe für das Lernen von den Schwächeren ergeben sich erstens aus dem Unikat der persönlichen Perspektive – jede Perspektive ist also einzigartig und kann möglicherweise Standpunkte aufzeigen, welche die eigene Ansicht bereichern oder anderweitig festigen können.

Zweitens ergibt sich das Lernen von Schwächeren auch aus der simplen Limitierung des Menschen. Der Mensch kann ganz einfach nur eine gewisse Menge an Fertigkeiten oder Wissen erlernen und kann deswegen auch von Schwächeren unterwiesen werden.

General McChrystal spricht dazu über eine Operation in Baghdad: „Wir verfolgten den Anführer von Al-Qaida und verfolgten seinen spirituellen Berater durch Baghdad. Wir hatten Drohnen in der Luft, Agenten auf dem Boden, und er bewegte sich durch die Stadt, wechselte Autos, ging in ein Restaurant und aus der Hintertür hinaus, änderte die Richtung (…). Und die ganze Zeit wollte ich ihn schnappen und dafür sorgen, dass er uns die Informationen über seinen Anführer gibt. Aber da gab es diesen Kommandeur, der weit unter mir im Rang stand, aber all die wichtigen Informationen besaß, und er sagte: ‚Nein, nein, lassen Sie ihn. Er wird uns direkt zu ihm (dem Anführer) führen.‘ Und tatsächlich machte er genau das.“

5.4. Probleme mit dem Lernen von Schwächeren

Auch das Lernen von Schwächeren gestaltet sich nicht immer reibungslos. Dabei sind die Gründe hierfür weniger komplex, als in einer Beziehung mit Stärkeren.

Der Hauptgrund, nicht von Schwächeren lernen zu wollen, liegt in falschem Stolz. Falsch darum, weil das Lernen und subsequente Verbessern dem echten Stolz zuträglicher ist als das Beharren auf einem Rangunterschied. Gerade wenn dieses Beharren den Menschen von persönlicher Verbesserung abhält.

Auch ist sich der Mensch häufig genug nicht seiner eigenen Grenzen bewusst. Er muss bescheiden Maß halten, um so viel zu lernen wie möglich. Das gilt sowohl für das Lernen von Schwächeren als auch von Stärkeren. So kann jeder Mensch für sich und die Menschen um ihn herum Gutes tun und einen Schritt nach dem anderen in Richtung persönlicher und gesellschaftlicher Harmonie machen.

1 Jun 2025

Footnotes

  1. Dazu bei Konfuzius im Buch von Maß und Mitte I, 1 [@fellmann2015buch]: „Was der Himmel dem Menschen mitgegeben hat, heißt Natur. Die Übereinstimmung mit der Natur heißt Weg. Was den Weg ausmacht, heißt Bildung.“

  2. So funktionieren nach konfuzianischem Bild Regierungen. Sie bieten den Bürgern eine gewisse Leistung, bspw. Sicherheit, Stabilität, Sozialleistungen wie Pflege o. Ä., und empfangen auf der anderen Seite „Leistungen“ von den Bürgern, also in Form von Geld, Loyalität, Militärdienst etc. Regierungen wie die US-amerikanische, die keine Sozialleistungen, Krankenversicherungen o. Ä. bereitstellen, dennoch von ihren Bürgern Steuern, Loyalität und Militärdienst empfangen, sind nach diesem Bild nach falschem Maß konstruierte Regierungen.

  3. Dazu sei angemerkt, dass viele Rollen einen natürlichen Machtcharakter haben. Beispielsweise zwischen Eltern und Kindern besteht ein substantieller Alters- und Erfahrungsunterschied, sodass sich vollkommen natürlich eine hierarchische Ordnung etabliert. Anders ist dies beispielsweise zwischen Freunden.

  4. Es sei angemerkt, dass ein solches Gesellschaftsbild nicht nötigerweise unmöglich zu erreichen ist, aber wohl eine Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung darstellt, von der wir derzeit weit entfernt sind.

  5. Dazu sei gesagt, dass auch Schüler durchaus zum besseren Verstehen von Lehren ihren Lehrer fragen bzw. ihm widersprechen sollen. Wichtig ist das Grundvertrauen, kein blindes Folgen von Anweisungen. So sprach Konfuzius in den Gesprächen II,9 [@kong1982konfuzius]: „Ich unterhielt mich einen ganzen Tag mit Hui. Er hat mir dabei in nichts widersprochen – als wäre er ein Dummkopf.“

Bibliography

Dostojewski, F. M. (2015). Die Brüder Karamasow. BoD–Books on Demand.
Fellmann, F., Fellmann, U., Yu, H., & others. (2015). Das Buch von Maß und Mitte. Reclam Verlag.
graf Leo Tolstoy, Berndl, L., von Glümer, C., & Löwenfeld, R. (1925). Krieg und Frieden. Diederichs.
Kong, Q., & Moritz, R. (1982). Konfuzius: Gespräche (Lun-Yu).
Nietzsche, F. (1996). Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral (1886-1887) (Bd. 2). Walter de Gruyter.
Nietzsche, F. W. (1999). Jenseits von Gut und Böse: Zur Genealogie der Moral (Bd. 5). Museum Tusculanum Press.
Puschkin, A. (2022). Der Postmeister und andere Erzählungen. BoD–Books on Demand.
Schmidt, M. W. G. (2010). LAOZI DAODEJING: oder Der Klassiker vom Dao und vom De. viademica. verlag.
Tingyang, Z. (2020). Alles unter dem Himmel: Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung. Suhrkamp Verlag.
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