Über die Selbstreflexion
Die Selbstreflexion des Menschen ist wohl ein Thema, mit dem wir uns umfassend beschäftigen können.
Sie ist unumstritten ein Grund für die umfassende Dominanz des Menschen über den Planeten und kann uns sowohl einen Weg in unser persönliches Glück als auch in unser Verderben öffnen.
Statt nun aber, wie in manchem anderen philosophischen Werk, die Begrifflichkeiten und gedanklichen Ebenen der Selbstreflexion zu definieren und ein riesiges, wohl beeindruckendes Gebilde aus letztendlich heißer Luft zu erschaffen, wollen wir die Selbstreflexion als das betrachten, was sie für uns wahrnehmbar darstellt – ein Werkzeug, welches mit Vorsicht zu genießen ist. Und auch Worte wollen wir als das betrachten, was sie sind – Platzhalter ohne direkten Zusammenhang zu echten Konstrukten.
Im Folgenden möchte ich erläutern, welchen Nutzen die Selbstreflexion für den Menschen haben kann, wie sie am besten eingesetzt wird und wo das Maß für sie angesetzt werden sollte. Denn die Selbstreflexion ist ein unentbehrliches Mittel auf dem Weg zur besten Version von uns selber und auf dem Weg zum Ideal des Menschen.
1. Nutzen
Wie schon im Namen enthalten und wohl am offensichtlichsten findet sich der Nutzen der Selbstreflexion im Studium des Selbst. Soll bedeuten: Sie ermöglicht uns zu beobachten, was uns guttut, welche Eigenschaften uns ausmachen, was wir uns vom Leben erhoffen, was uns wütend oder glücklich stimmt, usw. usf.
All diese Informationen benötigen wir, um die beste Version von uns selber zu werden. Denn ohne Kenntnisse über eine große Bandbreite von Informationen über uns selber sind wir nur ein Blatt im Wind, treiben ziellos im Fluss des Lebens und neigen uns wie das Gras, wenn der Wind darüber bläst. Weniger poetisch: Ohne Wissen über uns können wir unsere Ziele nicht verstehen und nach nichts streben. Oder wir streben nach Dingen, nach denen es uns letztendlich nicht wirklich verlangt. Solche Ziele zu verfolgen ist meist sinnlos, da wir nur in dem vollständig exzellieren können, was in unserer Natur liegt.
Als eine Art nächste Stufe dieser Informationsbeschaffung über uns selbst ermöglicht uns die Selbstreflexion, mit diesen Informationen richtig umzugehen.
Sie ermöglicht uns Impuls- und Instinktkontrolle sowie Selbstdisziplin, sollten wir feststellen, dass einige unserer Neigungen, Wünsche und Eigenschaften nicht dem Ideal entsprechen, nach dem wir streben.
Ohne Selbstdisziplin, die eben ein gewisses Bewusstsein über uns selbst und unsere Situation erfordert, geben wir unseren eigenen Trieben oder kurzfristig gedachtem Streben nach und manövrieren uns dabei häufig genug in ungewollte Situationen.
Ein Mensch hat über sich herausgefunden, dass er gerne ein gefährlich aussehender Kämpfer wäre. Er begibt sich mit diesem Ziel also zum Friseur, lässt sich die Haare kurz schneiden und beginnt, zum Kampfsporttraining zu gehen. Schon bald aber verpasst er sein erstes Training, da er Fußballspielen priorisiert. Dies passiert immer häufiger; dabei fühlt er sich stets ein wenig unwohl. Wenn er aber zum Kampfsporttraining geht, fühlt er sich ebenfalls ein wenig schlecht, da er ja Fußball spielen könnte und so in beiden Sportarten keine großen Fortschritte verzeichnen kann, wie er sich ursprünglich erhofft hatte.
In diesem Beispiel sehen wir, welche potenziellen Folgen unzureichende Selbstreflexion haben kann. Der Mensch hat seine eigenen Gedanken nicht richtig kontrolliert und folgt nun einem Weg, der zum Scheitern verurteilt ist. Er hat wochenlang wenig und ineffizient trainiert, sich dabei unwohl gefühlt, die (vielleicht schönen) Haare abrasiert, seinen eigentlichen Vorlieben (Fußball), die immer wieder durchbrechen, weniger Aufmerksamkeit geschenkt und sich allgemein in ein tiefes Unwohlsein manövriert. Es liegt nun an diesem Menschen, erneut zu reflektieren – gründlich und ehrlich. Auf diese Weise kann er den „Weg wiederfinden“ [^1] und das tun, was für ihn am besten ist.
Auf der nächsten Stufe dient uns die Selbstreflexion als Selbsttest. Wir können durch Reflexion unsere eigenen Antworten bzw. unmittelbaren Reaktionen auf ihre Sittlichkeit und Angemessenheit überprüfen und damit einordnen, wie weit wir bereits auf dem Weg zum idealen Menschen fortgeschritten sind.
Einige Worte zur Terminologie „Frage“ und „Antwort“:
- Als „Antwort“ wird die unmittelbare Reaktion, der unkontrollierbare Gedankengang, die unreflektierte, automatische Handlung/Haltung eines Menschen bezeichnet.
- Als „Frage“ hingegen wird die Reflexion des Menschen, ohne zu handeln oder eine bestimmte Haltung einzunehmen, die kontemplative Ebene, auf der der Mensch sich äußerlich nicht „bewegt“, bezeichnet.
Der Mensch funktioniert in der Regel nach einem „Antwort-Frage-Prinzip“. Das bedeutet, dass der Mensch eine Antwort gibt und danach erst anfängt, diese zu hinterfragen.¹
Wird einem Menschen mit voller Absicht ins Gesicht gespuckt, dann „antwortet“ er ohne nachzudenken mit einem Gefühl. Es wird nicht erst „gefragt“, welches Gefühl er nun fühlen soll, sondern zuerst wird „geantwortet“, und dies in der Regel mit Ekel, Wut, Überraschung o. Ä.
¹ Diese Funktionsweise des Menschen ist ein historisch sehr nützliches Werkzeug. So mussten wir, wenn wir beispielsweise von einem riesigen Braunbären angegriffen wurden, nicht erst darüber nachdenken, ob und wie wir handeln, sondern „antworten“ unmittelbar mit einer Reaktion auf das Ereignis des Angriffs – heißt also wegrennen oder kämpfen.
Dieses Prinzip und seine Terminologie werden an späterer Stelle noch einmal verwendet.
Die Selbstreflexion hat also mannigfachen Nutzen auf dem Weg zur Vervollkommnung des Selbst. Sie lässt sich in drei Stufen aufteilen:
- Verstehen des Selbst
- Kontrollieren des Selbst
- Einordnen des Selbst
Diese drei Stufen schaffen Ordnung im Menschen und führen zum übergeordneten Sinn der Selbstreflexion und einem großen Teil der persönlichen Vervollkommnung, nämlich der persönlichen Wahrheit.
1.1. Die persönliche Wahrheit
Die persönliche Wahrheit des Menschen ist das, was ihn selbstsicher und selbstbewusst macht, ihm einen Lebensweg, ein Ziel gibt und ihn zu einem vollständigen, stabilen Menschen werden lässt.
Das direkte Gegenstück zur persönlichen Wahrheit ist die konforme Weisheit. Konforme Weisheit entsteht dann, wenn die Weisheit anderer verwendet wird, um allerlei Thesen zu stützen. Diese Thesen können sich widersprechen und sich gegenseitig auskontern, können aber dennoch von ein und demselben Menschen vertreten werden.
Ein Beispiel mit vier solcher Thesen nach Slavoj Žižek:
- Warum sollten wir unentwegt den menschlichen Gelüsten nachlaufen? Wir sollten nach der Ewigkeit streben und unser Leben danach richten.
- Warum sollten wir nach der Ewigkeit streben? Carpe diem („Nutze den Tag“).
- Warum sollten wir in einem Kontrast zwischen temporärem Glück und Ewigkeit gefangen sein? Sieh die Ewigkeit im vergänglichen Moment.
- Wie können wir nicht in einem Kontrast zwischen temporärem Glück und Ewigkeit gefangen sein? Ihn zu akzeptieren, so anzunehmen, wie er ist – das ist die Lösung.
Ein halbwegs wortgewandter Mensch wird mit Leichtigkeit diese vier, völlig widersprüchlichen Thesen verteidigen können, ohne dabei auch nur eine von ihnen selbst zu vertreten bzw. zu leben. Dies ist konforme Weisheit.
Die persönliche Wahrheit hingegen ist diejenige der vier Thesen, die übrig bleibt, wenn alle Worte ausgesprochen sind und der Mensch selbst – mit seiner Persönlichkeit, seinen Handlungen, seinem Charakter und seinen Überzeugungen – für eine dieser Thesen einstehen muss. Hat der Mensch diese eine These gefunden, dann hat er sich selbst verstanden, kontrolliert und überprüft. Er besitzt dann eine feste Erkenntnis, die ihn ein wenig stabiler macht.²
² Diese Stabilität ist gerade in einer Zeit, in der in Zentraleuropa keine stabile Gesellschafts- oder Werteordnung herrscht, besonders wichtig. Denn der philosophische Grundsatz, der am Boden aller Dinge liegt, lautet für den westlich zivilisierten Menschen: „Alles ist irgendwie“ oder „Alles kann aus jeder Perspektive betrachtet und vertreten werden“. Dieser Grundsatz macht Menschen unsicher und anfällig für verschiedenste Manipulationsansätze. Dies zeigt sich in der Welle von Persönlichkeiten, die ihre Bekanntheit dadurch erwarben, dass sie möglichst laut und verständlich ein kohärentes System für unsichere Menschen vorstellten. Beispiele umfassen u. a. Andrew Tate, den Neuaufschwung des Islams unter westlich zivilisierten Menschen, Hunderte von Podcastern, die völlig verzerrte Bilder von maskulinem oder femininem Verhalten vermitteln, sogenannte „Finanzgurus“ u. v. m.
Bringen wir nun die persönliche Wahrheit, das Antwort-Frage-Prinzip und die Selbstreflexion in Verbindung.
Zwei wichtige Definitionen für den folgenden Absatz: Die Natur des Menschen ist das, was ihn von Geburt an ausmacht. Die Bildung des Menschen ist das, was er sich im Laufe seines Lebens aneignet.
Dazu bei Konfuzius im Buch von Maß und Mitte I, 1:
„Was der Himmel dem Menschen mitgegeben hat, heißt Natur. Die Übereinstimmung mit der Natur heißt Weg. Was den Weg ausmacht, heißt Bildung.“
Der Mensch funktioniert nach dem Antwort-Frage-Prinzip, ist damit also größtenteils ein naturgesteuertes Wesen. Die Selbstreflexion gibt ihm nun die Möglichkeit herauszufinden, wie seine Natur beschaffen ist und inwiefern sie dem Ideal entspricht, das er verkörpern möchte. Sie bietet ihm auch eine gewisse Kontrolle darüber, wie er welche Antwort gibt. Dies funktioniert im ersten Schritt durch simples Antworten – also Leben und Lebenserfahrung sammeln, die es ermöglichen, das eigene Verhalten zu beobachten. Im zweiten Schritt muss er fragen – also dieses Beobachten und Hinterfragen der Antwort sowie das Abgleichen mit dem angestrebten Ideal. Und im dritten Schritt muss er erneut antworten – also handeln im Einklang mit der eigenen Natur, die nicht überwunden werden kann,³ und dem Ideal, das über Bildung erworben wird.
³ Es ist wichtig zu bemerken, dass die Natur des Menschen immer gleich bleibt. Die eigene Natur nicht zu beachten und das Leben überwiegend nach der Bildung zu strukturieren bedeutet stets nur, die Natur zu unterdrücken. Diese wird immer wieder an die Oberfläche brechen – schlimmstenfalls dann, wenn der Mensch zu alt ist, um sich zu ändern oder um seiner Natur freien Lauf zu lassen. Solches Verhalten führt zu Verbitterung im Alter – ein Phänomen, das überall zu beobachten ist.
Kann der Mensch nun seine Natur und seine Bildung in Einklang bringen, dann hat er seine persönliche Wahrheit (den Weg) gefunden und kann Ordnung und Stabilität in sein Leben bringen.
2. Anwendung
Die optimale praktische Anwendung von Selbstreflexion folgt meist einer festen Reihenfolge, die beachtet werden sollte, um ihre Vorteile zu nutzen und ihre Nachteile zu vermeiden.
Grundsätzlich sollten Antworten, die wir geben, reflektiert bzw. hinterfragt werden, um möglichst viel aus unseren Taten herauszuholen.
Reflektiert wird jedoch nur, wenn der Mensch eine Antwort tatsächlich schon gegeben hat. Rein theoretische Antworten zu analysieren entbehrt jedes Sinnes, da wir so leicht in einen Teufelskreis geraten, der später in dieser Abhandlung noch näher erläutert wird.
Gehen wir nun davon aus, dass wir selbst einen Prozess initiieren:
Person X betritt eine Bäckerei. Dort obliegt es ihr nun, eine Begrüßungsformel zu äußern, direkt zu bestellen, freundlich oder unfreundlich zu sein usw.
In diesem Beispiel hat Person X die vergleichsweise einfache Möglichkeit, ihre eigenen Aktionen, Worte und Verhaltensweisen zu reflektieren, bevor sie handelt. Sollte sie an diesem Tag schlecht gelaunt sein, verspürt sie vielleicht den Wunsch, gegenüber der Verkaufskraft unfreundlich zu werden. Reflektiert Person X jedoch nur kurz, ob sie sich wirklich so verhalten sollte, kommt sie zum Schluss, dies zu unterlassen.
Die Gründe? Es ziemt sich sozial nicht, ist also unsittlich, außerdem rational weder sinnvoll noch angemessen, und schließlich wird sich Person X für ihr Verhalten später schämen. Ein solches alltägliches, aber für Selbstvertrauen und Integrität wichtiges Beispiel lässt sich daher durch eine kurze Selbstreflexion problemlos bewältigen.
Es sei angemerkt, dass diese Art Reflexion maximal zweimal nötig bzw. sinnvoll ist. In banalen Entscheidungen – wie im genannten Beispiel – wäre häufiger zu reflektieren Zeitverschwendung; ein ausgeglichener Mensch braucht sie womöglich gar nicht. Bei schwierigeren, folgenschweren Entschlüssen hingegen sollte die Entscheidung zweimal durchdacht werden.
Dazu auch in den Gesprächen V, 19:
Ji Wenzi dachte dreimal, bevor er etwas tat. Der Meister (Konfuzius) hörte davon und sagte: „Zweimal ist genug.“
Zu häufige und ausgedehnte Reflexionen – kontemplative Gedankengänge – führen zu Unsicherheit und Stillstand.
Initiiert der Mensch also selbst eine Handlung, sollte er kurz vorher reflektieren. Dabei gilt es, die Grundlage der Reflexion so realitätsnah wie möglich zu halten, um nicht in hypothetische Fragestellungen abzudriften.
Übernehmen wir jedoch eine eher beobachtende Rolle – ohne eigene Handlungen zu initiieren –, sollte die Reflexion von Situation und Selbst erst nach Beendigung dieser Beobachterrolle erfolgen.
Person X ist zu einer Veranstaltung eingeladen. Es gibt eine Rede, anschließend eine Fragerunde und zum Abschluss einen kleinen Empfang.
In dieser Situation sollte Person X während des Ablaufs jede Reflexion unterlassen:
Erstens verzerrt gleichzeitiges Reflektieren – etwa während der Rede – die Erfahrung. Der Fokus liegt dann nicht mehr auf der Veranstaltung selbst, sondern auf den Gedanken darüber; wichtige Worte oder Zusammenhänge gehen verloren. Zweitens werden so aus dem Kontext gerissene Einzelausschnitte bewertet, was kaum Sinn stiftet.
Problematisch ist zudem, dass Person X, während sie reflektiert, in ihrem eigenen Kopf versinkt. Dadurch entfernt sie sich kontinuierlich von der Wirklichkeit⁴ und hat – im Extremfall – wachsende Schwierigkeiten in der Interaktion mit der realen Welt⁵.
⁴ Wer Mühe hat, sich auf den Moment zu konzentrieren und zu übermäßigen Gedankenschleifen neigt, kann eine Achtsamkeitsübung versuchen:
• Finde fünf Dinge, die du sehen kannst, und nenne sie in deinem Kopf.
• Finde vier Dinge, die du hören kannst, und nenne sie.
• Finde drei Dinge, die du berühren kannst, und nenne sie.
• Finde zwei Dinge, die du riechen kannst, und nenne sie.
⁵ Extremfälle übermäßiger Reflexion zeigen sich bei Personen mit exzessivem Social-Media-Konsum: Da online nie wirklich etwas passiert, sondern alles auf Worten und Selbstdarstellung beruht, wirken Menschen, die viel Zeit im Internet verbringen, von der realen Welt distanziert. Sie übernehmen Verhaltensweisen, die nur online Sinn ergeben, werden isoliert und ängstlich. Das Gehirn gewöhnt sich allzu leicht an jegliche Zustände und akzeptiert sogar „nicht reale Welten“ als real.
Zusammenfassend lässt sich die bewusste Selbstreflexion erneut am Antwort-Frage-Prinzip ausrichten:
- Nach dem Geben einer Antwort sollte durch Reflexion („Frage“) das persönliche Antwortmuster bewusst gemacht und – falls nötig – korrigiert werden.
- Bei Initiierung eines Prozesses empfiehlt sich das Muster „Frage–Antwort“, bei passiver Teilnahme das Muster „Antwort–Frage“.
So kann der Mensch sich eine möglichst maßvolle und wirksame Lebenserfahrung ermöglichen.
3. Maß
Wie bereits in den vorangegangenen Absätzen anklingt, gibt es ein gewisses Maß an Selbstreflexion, das unbedingt geachtet werden soll, um den maximalen Nutzen aus der Praktik der Reflexion zu ziehen. Sowohl unzureichende als auch übermäßige Reflexion limitieren den Menschen und schaffen ihm Probleme, die andernfalls gut vermieden werden könnten.
Im Folgenden möchte ich also aufzeigen, worin ein Ungleichgewicht der Praktik der Reflexion münden kann, damit der Leser selber sein Maß und seine Mitte finden kann.
Der Philosoph Zhu Xi (1130 – 1200) beruft sich auf die Gebrüder Cheng (Fellmann et al., 2015):
„Sich zu keiner Seite hinneigen, heißt Mitte, kein Schwanken zulassen, heißt Maß.“
3.1. Unzureichende Selbstreflexion
Unzureichende Selbstreflexion führt zu Nachteilen für den Menschen auf unterschiedlichen Ebenen. Auf der Ebene des Nutzens für den Menschen, auf der Ebene der persönlichen Vervollkommnung und auf der Ebene des menschlichen Ideals.
Auf der Ebene des Nutzens für den Menschen ziehen unzureichende Reflexion bzw. nicht hinterfragte Antworten das rationale Denken und die Fähigkeit, angemessene Entscheidungen zu treffen, in Mitleidenschaft.
Reflektiert der Mensch nicht gründlich, lässt er sich von seinen Emotionen, Instinkten und Impulsen leiten, entscheidet sich für schlechte Kompromisse (trade-offs) und handelt oft unvernünftig und unangemessen.
Die Nachteile auf der Ebene der persönlichen Vervollkommnung nehmen sowohl Einfluss auf die Effizienz als auch auf die Vervollkommnung des Selbst. Reflektiert der Mensch nicht genug, sind ihm der eigene Wille, die eigenen Bedürfnisse, Präferenzen, Stärken etc. unbekannt. Der Mangel dieses Bewusstseins führt dazu, dass Entscheidungen gewissermaßen „gegen das eigene Selbst“ getroffen werden können. Das bedeutet: gegen die eigene Natur, gegen das, was dem Selbst entspricht. Gerade die kurzfristig und chaotisch denkende Natur des Menschen erhöht dieses Risiko, welches schon am Beispiel des Kampfsports aufgezeigt wurde.
Person X wechselt häufig romantische Partner, gewinnt bei jeder neuen „Errungenschaft“ ein wenig Selbstvertrauen und fühlt sich bei fortwährender Praktik ausgeglichen. Aufgrund mangelnder Reflexion ist Person X nicht bewusst, dass dieses Verhalten nicht mehr ist als das Streben nach Anerkennung, um eventuell Minderwertigkeitskomplexe auszugleichen. Statt nun also an der Wurzel des Problems und tatsächlich an sich selbst zu arbeiten, betäubt Person X kurzfristig das schlechte Gefühl und wird damit über die Zeit nur unausgeglichener – besonders, wenn keine neuen „Errungenschaften“ in Form von neuen Partnern gefunden werden.
Auf der Ebene des Ideals des Menschen geht es darum, den Menschen in vollständiges Gleichgewicht⁶ zu bringen. So kann er in der Mitte stehen, also zu keinem destruktiven Extrem ausarten, und sein Maß halten, also gewissermaßen ohne zu schwanken durch die Stürme, durch die das Leben ihn schickt, nach vorne schreiten.
⁶ Die Ideen der Mitte und des Maßes finden sich auch in der Nikomachischen Ethik Aristoteles’. In der sogenannten „goldenen Mitte“ ergibt sich das Gleichgewicht aus den beiden Extremen einer Ausprägung. Bspw. liegt Tapferkeit zwischen tollkühnem und feigem Verhalten, Selbstkontrolle liegt zwischen Maßlosigkeit und Unempfindsamkeit etc.
Dementsprechend darf weder zu wenig gefragt noch zu wenig geantwortet werden. Der Weg liegt also in der Mitte. Praktiziert der Mensch zu wenig Reflexion und verlässt sich übermäßig auf seine instinktartigen Antworten, dominiert bei ihm die Natur über die Bildung. Das bedeutet, er ist grundsätzlich unausgeglichen.
Dazu in den Gesprächen VI, 18 (Kong & Moritz, 1982):
„Ist ein Mensch mehr natürlich als gebildet, dann ist er unkultiviert.“
Ohne ausreichende Selbstreflexion, Bildung und Frage – drei Begriffe, deren Bedeutungen teils fließend ineinander übergehen – ist es nicht möglich, nach dem Ideal des Menschen zu streben – dem Ideal eines ausgeglichenen, angemessen handelnden, stabilen Menschen. Es ist also unbedingt nötig, Reflexion in ausreichendem Maße zu betreiben.
3.2. Übermäßige Selbstreflexion
Übermäßige Selbstreflexion ist, in der modernen Philosophie, ein unzureichend behandeltes Problem. Dieses Phänomen steht dem Menschen nicht nur im Streben nach dem Ideal im Weg. Im Überfluss praktiziert, kann die Reflexion den Menschen vollständig von der gelebten Realität abtrennen und ihn in einem Kreis der Untätigkeit gefangen halten. Im Folgenden wird aufgeführt, welche Konsequenzen übermäßige Selbstreflexion bzw. übermäßiges Fragen für den Menschen haben kann.
Die wohl gängigste Konsequenz übermäßiger Reflexion begründet sich in der Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Haben wir in Situation X eine Antwort gegeben und reflektieren diese nun, reflektieren wir effektiv eine Erinnerung. Bei jedem Zugriff auf unsere Erinnerungen verändert das menschliche Gehirn allerdings diese Erinnerungen, verzerrt sie ein kleines bisschen. Während dies alltäglich und völlig natürlich ist, besteht das Risiko, dass übermäßig häufiger Zugriff und intensive Auseinandersetzung mit unseren Erinnerungen die Realitätsnähe und den Wert der Erinnerung völlig vernichtet. Die Reflexion des Menschen soll aber dazu dienen, seine Antwort zu hinterfragen und diese zu verbessern. Somit ist es fatal, die Ausgangsbasis für die Veränderung – also die geschehene, erinnerte Antwort – zu stark zu verzerren.
Der Mensch sollte also danach streben, seine Erinnerungen und bereits gegebene Antworten gründlich und ehrlich, aber nicht hyperfixiert und kontinuierlich zu verarbeiten. Auf diese Weise kann er sowohl den Nutzen aus seinen Erinnerungen ziehen und diese für eine bessere Zukunft nutzen als auch die Erinnerung selbst und ihren Wert, die damit verbundenen Gefühle etc., bewahren.
Übermäßige Reflexion kann, in stärkerer Ausprägung, zu einem gewissen Grad an Realitätsverlust führen. Stellt der Mensch konstant die Frage vor die Antwort, läuft er Risiko, den Bezug zur tatsächlichen Antwort vollständig zu verlieren. In solchen Fällen werden mehr die Frage selbst und damit die Eventualität einer Antwort reflektiert als die Antwort selbst.
Person X möchte sich auf eine Stelle bewerben. Das Unternehmen genießt in seiner Szene den Ruf, streng und stark erfolgsorientiert zu sein. Person X fühlt sich dementsprechend vor der ersten Kontaktaufnahme nervös. Person X spielt unterschiedliche Szenarien in ihrem Kopf durch, stellt sich vor, wie sie den besten Eindruck hinterlassen könnte, was der beste Weg zur Kontaktaufnahme sei usw. usf. Person X macht sich nun immer mehr Sorgen und nimmt den Kontakt vorerst nicht auf. Wochenlang nagt es noch an ihr, bis sie endlich eine Nachricht an das Unternehmen schickt – die einfachste und ängstlichste Lösung. Das Unternehmen antwortet schnell, dass die Stelle seit ein paar Tagen vergeben sei.
In diesem Beispiel wird deutlich, wie weit man sich in der Reflexion von den realen Umständen in der Welt um einen herum entfernen kann. Statt maßvoll zweimal zu überlegen, welche Antwort die beste sei, reflektierte Person X unzählige Male eine Antwort, die nicht real war. Statt also maßvoll zweimal zu überlegen, welche Antwort die beste sei, reflektierte Person X unzählige Male nichts. Das Resultat dieser übermäßigen Reflexion waren Angstzustände, Frustration und schlussendlich eine Antwort (das Verfassen und Senden einer Nachricht), die Person X auch innerhalb der ersten fünf Minuten der ursprünglichen Reflexion hätte verfassen können.
Solcherlei Beispiele verdeutlichen eindrucksvoll, dass Antwort und Frage beinahe untrennbar zusammengehören. Übermäßige Reflexion führt dazu, dass der Mensch sich beinahe ausschließlich auf die Reflexion fokussiert. Das Maß ist somit überzogen, die Anwendung falsch und der Nutzen nichtig.
Übermäßige Reflexion kann also dazu führen, dass schlussendlich nur noch die Reflexion reflektiert wird. Dies mündet in einem Teufelskreis aus Überlegungen ohne Handlung.
Denn solange die Frage gefragt wird, ist der Mensch unsicher. Er befindet sich nämlich nicht an einem festen Punkt, sondern schwankt stattdessen zwischen unterschiedlichen Punkten, unterschiedlichen Perspektiven, Ansätzen, Alternativen etc. und ist damit ständig beeinflussbar.
Ein weiterer Punkt, der sich aus dem Beispiel von Person X und ihrer Bewerbung ergibt, steht in direkter Verbindung zur Dominanz der Bildung in konfuzianischer Lehre.
Dazu in den Gesprächen VI, 18 (Kong & Moritz, 1982):
„Unterdrückt die Bildung eines Menschen seine Natur, dann ist er eine Schreiberseele.“
Damit ist gemeint, dass es dem Menschen, in seiner Bestrebung, das Ideal des Menschen zu erreichen, passieren kann, dass er die Lehre, die ihn auf den Weg zum Ideal bringen soll, völlig ungeachtet seiner eigenen Natur anzuwenden sucht. Die Natur des Menschen steht aber seit seiner Geburt an fest und lässt sich nicht überwinden. Der Mensch, der von der Bildung dominiert wird, unterdrückt also seine Natur, die immer wieder aus ihm herausbrechen wird. Eine Schreiberseele ist also genau das; ein Mensch, aus dem es immer wieder herausbricht und ihn, in der konfuzianischen Analogie, zum Niederbringen auf das Papier zwingt.
Übertragen wir nun diese Lehre auf das Beispiel von Person X. Die Frage dominiert nun die Antwort. Die gewünschte Handlung wird von der Reflexion überschattet. Dennoch fühlt sich Person X nicht zufrieden. Das Verlangen, mit dem Unternehmen Kontakt aufzunehmen, verflüchtigt sich nicht. Stattdessen bricht es Wochen später aus Person X heraus. Auf diese Weise wird der Mensch also weder seiner Natur noch seiner Bildung wirklich gerecht.
23 May 2025