Über das Beurteilen

Das Beurteilen, Einordnen und Einschätzen von Menschen und Situationen um uns herum ist ein integraler Teil eines jeden menschlichen Lebens. Dabei wirken in jedem Urteil eine Vielzahl von Mechanismen, die uns das Beurteilen erleichtern oder erschweren können. Es soll im Folgenden um die unterschiedlichen Mechanismen gehen, die für das Beurteilen von Menschen und Dingen wichtig sind. Auch der Mensch selbst, als Ausgangsbasis für jedes Urteil, soll hier seine Beachtung finden. Denn das Innenleben des Menschen fungiert in jeder Situation als eine Art Filter für das, was um ihn herum passiert, und interpretiert damit alle Dinge und Menschen auf der Basis seines inneren Zustandes.

Nachfolgend soll also zuerst auf den Nutzen und die Arten eines (guten) Urteils eingegangen werden, bevor wir uns mit dem Selbst als Ausgangsbasis beschäftigen. Dabei werden uns Maß, Mitte und Ordnung über die Gesamtheit der Abhandlung begleiten. Ihr Nutzen sollte sich immer wieder vor Augen geführt und ihre Umsetzung im Leben gesucht werden.

1. Der Nutzen eines angemessenen Urteils

Ein wichtiger Nutzen, der sich aus einem angemessenen Urteil ergibt, ist das Schaffen von Ordnung. Gelingt es dem Menschen, die Menschen und die Dinge um ihn herum richtig zu beurteilen, schafft er ein stabiles Konstrukt, anhand dessen er sorglos das Leben und seine Schwierigkeiten navigieren kann.

Diese Ordnung ermöglicht es dem Menschen ebenfalls, gute Kompromisse (Trade-offs) einzugehen. Denn ein richtiges Beurteilen von beispielsweise der Priorität unterschiedlicher Menschen kann zu besseren Entscheidungen innerhalb etablierter Gesellschaftsstrukturen wie der Familie oder Freundschaftsgruppe führen. Angemessene Urteile von beispielsweise Situationen und dem Selbst können Kompromisse in der Karriere und dem gesellschaftlichen Zusammenleben erheblich erleichtern.

Eine Ordnung der Welt für das Individuum und die daraus resultierende Fähigkeit, angemessene Kompromisse zu treffen, stellen einen wichtigen Nutzen von angemessenen Urteilen dar.

Mit der Ordnung, die der Mensch sich durch angemessene Urteile schaffen kann, wird das Erreichen und Einhalten von Maß und Mitte – zweier großer Ideale – zu einem tatsächlich erreichbaren Ziel. Denn ein klares Urteil ermöglicht es dem Menschen, zu erkennen, wo die Mitte liegt, und hält ihn davon ab, sich zu sehr zu einer Seite hinzuneigen. Die Ordnung, die ein angemessenes Urteil dem Menschen schafft, ermöglicht es ihm ebenfalls, das Maß einzuhalten. Liegt der Weltansicht des Menschen nämlich ein stabiles System zugrunde, so kann ihn nichts zum Schwanken bringen. Der Mensch stützt das System, und das System stützt den Menschen.

Maß und Mitte gehen also so sehr mit einem angemessenen Urteil einher, wie ein angemessenes Urteil aus Maß und Mitte resultiert.

All die vorangegangenen Nutzen und Komponenten eines angemessenen Urteils, Ordnung und das Erhalten von Maß und Mitte, führen in einem Menschen zu Harmonie. Seine Natur und seine Bildung sind ausgeglichen, seine Urteile sind angemessen, er erkennt die Menschen und die Dinge. Dann kann der Mensch schließlich selbst anfangen, diese Harmonie zu verbreiten. Das Verbreiten dieser Harmonie erfolgt schließlich ohne aktives Propagieren dieser Harmonie.

In den Gesprächen XII, 22() fragt ein Schüler des Konfuzius dazu über die Weisheit:

Konfuzius sprach: „Weisheit heißt, die Menschen zu kennen.“ Doch Fan Chi verstand nicht sofort. So setzte der Meister hinzu: „Man soll Gerades auf Verbogenes setzen, damit auch das Verbogene gerade werde.“
Fan Chi ging und traf Zi-Xia. Zu ihm sprach er: „Ich habe eben den Meister gefragt, was Weisheit sei. Er hat mir geantwortet, man soll Gerades auf Verbogenes setzen, damit auch das Verbogene gerade werde. Was heißt das?“
Zi-Xia daraufhin: „Das sind bedeutungsvolle Worte. Als Kaiser Shun das Reich hatte, wählte er unter vielen Gao-yao aus und ernannte ihn zum Minister. Da konnten schlechte Leute nicht mehr bestehen. Als König Tang das Reich hatte, wählte er Yi Yin aus, und auch hier verschwanden alle, die böse und schlecht waren.“

So verhält es sich auch mit dem Menschen, der Harmonie erreicht hat, ohne zu herrschen. Seine Lehren verbreiten sich, Menschen hören auf ihn. Maß und Mitte, angemessene Urteile und Ordnung ermöglichen es dem Menschen, Harmonie in der Gesellschaft zu verbreiten.

Für jeden, der nach hohen menschlichen Idealen strebt, haben sich nun genügend Gründe ergeben, nach der Ordnung zu streben, die mit angemessenen Urteilen einhergehen.

2. Arten des Urteils

Nun wollen wir uns mit den Arten des Urteils beschäftigen. Diese werden in das Urteil über die Menschen und das Urteil über die Dinge unterteilt. Diese Unterteilung erfolgt nach traditionell konfuzianischem Weltbild.

Da eine vollständige Trennung der Urteile von dem urteilenden Menschen nicht möglich ist, werden auch menschliche Verhaltensweisen in der Beurteilung immer wieder zur Erwähnung kommen. Der Fokus wird aber auf der Verbindung des Subjekts, also des urteilenden Menschen, zu den zu beurteilenden Menschen und Dingen liegen.

2.1. Das Urteil über Menschen

Das Beurteilen von Menschen findet bei jedem Menschen sowohl bewusst als auch unterbewusst ständig statt. So gestaltet also unser Urteil über Menschen unser soziales Umfeld. Ein unangemessenes bzw. falsches Urteil von Menschen kann uns sowohl in den Umgang mit für uns schlechten Menschen treiben als uns auch den Umgang mit für uns guten Menschen verwehren.

Wie auch bereits in „Über das Lernen“ ausgiebig erläutert, lernen wir mit und für andere Menschen. Sich also ein angemessenes Urteil über Menschen zu bilden und uns mit denen zu umgeben, von denen wir lernen können, verstärkt die Wichtigkeit eines angemessenen Urteils über unsere Mitmenschen.

Über Menschen richtig zu urteilen, ist also von größter Wichtigkeit. Es soll nun auch geklärt werden, wie das Urteilen von Menschen funktioniert.

Im Urteil über den Menschen sollte auf drei Faktoren geachtet werden. Diese sind:

  1. Worte
  2. Taten
  3. Körpersprache

Dazu heißt es in den Gesprächen I, 3 ():

Glatte Worte und eine heuchlerische Miene – da ist es mit einem guten Charakter meist nicht weit her.

Hier wird bereits auf einen wichtigen Punkt verwiesen – die Worte des Menschen. Vor der Rhetorik wird gewarnt. Ihr ist niemals vollständig zu vertrauen. Denn jeder kann Worte sprechen, ganz unabhängig von seinen eigenen Taten. Worte sind letztendlich nur Instrumente, die zu einfach für den schlechten Zweck genutzt werden können.

Konfuzius spricht dazu in den Gesprächen XIV, 4 genauer:

Wer nach den richtigen moralischen Grundsätzen handelt, wird schon auch reden können. Wer jedoch reden kann, vertritt nicht immer schon die richtigen Grundsätze.

Aus den Worten eines Menschen lassen sich erst klare Schlüsse ziehen, wenn er ihnen entsprechend schon gehandelt hat.

Dazu findet sich in den Gesprächen II, 13 () folgender Absatz:

Zi-Gong fragte, was einen Edlen ausmache. Der Meister antwortete: „Erst handelt er, wie er denkt. Dann spricht er, wie er handelt.“

Wenn der zu beurteilende Mensch also schon gehandelt hat und nun seinen Handlungen entsprechend spricht, kann diesen Worten vertraut werden und von den Worten können Rückschlüsse auf die Handlungen gezogen werden.

Aus den Worten eines Menschen können sich aber zumindest Teile seiner Beweggründe folgern lassen. Und diese Beweggründe des Menschen sind ein großer Teil dessen, was ihn ausmacht. Diese Beweggründe des Menschen stellen eine Handlungsbasis dar, von der verlässliche Rückschlüsse auf die Persönlichkeit gezogen werden können. Denn diese Gründe sind eine feste Komponente des Charakters eines Menschen.

Wenden wir uns nun von den Worten ab und den Handlungen eines Menschen zu. Hier können unter anderem die Fehler eines Menschen zur Beurteilung herangezogen werden.

Dazu in den Gesprächen IV, 7 ():

Die Verfehlungen, die begangen werden, entsprechen der Sorte von Leuten, die sie machen. An seinen Fehlern kann man den Menschen erkennen.

Fehler geben uns also Rückschlüsse auf den Menschen selbst. Dazu sei angemerkt, dass ein Fehler erst als Fehler gilt, wenn er nicht korrigiert wird. In diesem Fall läuft einem Fehler also ein bestimmter Gedankengang und eine Handlung voraus. Diese Handlung mündet schließlich in einem Fehler – eine, für den Menschen intensiv negative Erfahrung, mit der umgegangen werden muss. Es spiegelt sich in den Fehlern eines Menschen also eine Vielzahl an Komponenten, die den Menschen ausmachen.

Das richtige Urteilen über die Fehler eines Menschen macht es für den Menschen einfach, schlechten Kontakt zu vermeiden.

In den Gesprächen II, 10 () heißt es weiterhin:

Sieh, welche Mittel ein Mensch verwendet, um seine Ziele zu erreichen; betrachte die Beweggründe, die sein Handeln bestimmen; prüfe, worin seine Seele Ruhe findet und was ihn bewegt. Wie kann ein Mensch da noch sein Wesen verbergen?

Auf die Beweggründe des Menschen wurde bereits eingegangen. Erläutern wir also, welche Bedeutung die Mittel, die vom Menschen genutzt werden, um seine Ziele zu erreichen, haben.

Im Deutschen gibt es einen Ausdruck, der da lautet: „Der Zweck heiligt die Mittel.“ In diesem Ausdruck finden sich einige Gründe für die Wichtigkeit der angewendeten Mittel eines Menschen. Ist der Mensch beispielsweise willens, für eine harmonische, freiheitliche Gesellschaft seine ideologischen Feinde zu töten, ergibt sich für den urteilenden Menschen die Frage, ob der zu beurteilende Mensch wirklich für eine auf Meinungsfreiheit und Harmonie beruhende Gesellschaft kämpft. Denn in diesem Fall widersprechen sich Zweck und Mittel.

Die Mittel, die ein Mensch nutzt, um seine Ziele zu erreichen, stellen ebenfalls eine sehr grobe Reflexion des Charakters des zu beurteilenden Menschen dar. Jede Handlung, die er vollzieht, kann Aufschluss über den Menschen selbst geben, vorausgesetzt, er hat mehrere Entscheidungen, die er treffen kann.

Betrachten wir schließlich noch, was den zu beurteilenden Menschen entspannt und was ihn bewegt. Können wir dies feststellen, kann uns das Aufschluss darüber geben, welche weltlichen Situationen, Ereignisse und Stimmungen dem Wesen des zu beurteilenden Menschen entsprechen.

In diesem Sinne weisen uns beide Szenarien – jenes, in welchem der zu beurteilende Mensch entspannt ist, und jenes, in welchem er bewegt ist – auf dasselbe hin. Das Wesen des Menschen reagiert mit bestimmten Situationen stärker als mit anderen. Denn diese Situationen stehen in einer Beziehung mit dem Wesen des Menschen. Ob sich ein Mensch alleine, oder unter Menschen wohl fühlt, welche Art Tragödie ihn bewegt; solcherlei unterschiedliche Situationen öffnen dem urteilenden Menschen eindeutige Perspektiven auf das Wesen des zu beurteilenden Menschen.

An letzter Stelle soll die Körpersprache des Menschen Erwähnung finden. Denn innerliche und äußerliche Haltung sind untrennbar miteinander verknüpft. Wie sich ein Mensch im alltäglichen Leben bewegt, gibt dem beurteilenden Menschen eindeutigen Aufschluss über das Wesen des zu beurteilenden Menschen.

Bewegt der Mensch beispielsweise seine Schultern und Arme zu ausladend und setzt seine Schritte zu breit, so versucht er Selbstsicherheit nach außen auszustrahlen. Hält der Mensch seine Schultern zu hoch, die Brust zu tief und den Nacken niedrig, hält der Mensch sich selbst für wenig respektabel. Hält der Mensch seinen Kopf gerade, trägt einen offenen Gesichtsausdruck, senkt die Schultern und läuft dynamisch, aber gelassen, kann man von einem selbstsicheren Menschen ausgehen.

Beispiele dieser Art zeigen, wie der Mensch im alltäglichen Leben seine mentale Haltung nach außen manifestiert. Doch Körpersprache kann ebenfalls ein bewusst gewähltes Ausdrucksmittel sein, mit dem gegenüber anderen Menschen oder zu bestimmten Anlässen eine bestimmte Einstellung vermittelt werden soll. Beispielsweise signalisiert das Senken des Blickes bei ausgedehntem Blickkontakt das Einnehmen einer niedrigeren Position als der des Gegenübers. Ebenso gelten das Beugen des Hauptes oder des Oberkörpers als respektvoll.

Dazu findet sich bei den Gesprächen X, 3 () folgende Beschreibung:

Immer, wenn Konfuzius auf Geheiß des Herrschers einen Staatsgast empfangen sollte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck, seine Miene wurde ernst, seine Schritte flüchtiger. Er verbeugte sich vor denen, die neben ihm standen, und grüßte mit zusammengelegten Händen nach rechts und links. (…) Er bewegte sich, als würde er schweben – einem Vogel gleich, der die Flügel ausstreckt.

Es zeigt sich also deutlich, welche Bedeutung die Körpersprache für das Urteilen über andere Menschen hat. Nicht nur ihre Einstellung gegenüber sich selbst, sondern auch das Verhalten gegenüber anderen Menschen kann somit gut eingeschätzt werden.

Für ein angemessenes Urteil über den Menschen sind also unterschiedliche Faktoren wichtig. Seine Worte und Handlungen, seine Beweggründe und seine Körperhaltung sind alle bedeutsam für ein angemessenes Urteil. Diese Faktoren können jedoch nur kombiniert ein ganzheitliches Urteil über das Wesen eines Menschen liefern.

Von einer Eigenschaft oder Verhaltensweise des Menschen lässt sich selten auf alle anderen schließen. Dies liegt am Chaos und an der vollkommenen Einzigartigkeit eines jeden Menschen.

Dazu steht in den Gesprächen V, 19 ():

(Der Schüler) Zi-zhang fragte: „Zi-wen hatte dreimal das Amt eines Kanzlers inne, ohne sich an der Macht zu ergötzen. Dreimal wurde er seines Amtes enthoben, ohne darüber verärgert zu sein. Er hielt es stets für seine Pflicht, den Nachfolger in das Amt einzuführen. Was ist von diesem Mann zu halten?“
Konfuzius antwortete: „Er war voll Ergebenheit.“
Zi-zhang fragte weiter: „War er ein moralischer Mensch?“
Der Meister sagte daraufhin: „Ich weiß es nicht. Warum sollten wir ihn so bezeichnen?“
Zi-zhang fuhr fort: „Als Cui-zi den Herrscher von Qi ermordete, gab (der Beamte) Chen Wen-zi auf, was er besaß, und verließ den Staat Qi. In einem anderen Staat angekommen, sagte er: ‚Die hier verhalten sich ja genauso wie bei uns dieser Cui-zi.‘ Er ging in den nächsten Staat, und er sagte wieder: ‚Die hier sind auch so wie bei uns dieser Cui-zi.‘ Dort blieb er auch nicht. Was haltet Ihr von diesem Chen Wen-zi?“
Der Meister antwortete: „Er blieb sauber.“
„War er ein moralischer Mensch?“
Konfuzius meinte: „Ich weiß es nicht. Warum sollten wir ihn so bezeichnen?“

Diese Passage lehrt uns eindeutig, Urteile angemessen und nicht maß- und haltlos zu fällen, Menschen nicht zu sehr in Kategorien einzuteilen und uns dessen zu besinnen, was wir tatsächlich wissen.

Dazu eine weitere wichtige Aussage in den Gesprächen XV, 23 ():

Der Edle beurteilt die Menschen nicht nach ihren Worten, und er verwirft nicht Worte nur des Menschen wegen, der sie gesprochen hat.

Auf der anderen Seite sei gesagt, dass Menschen häufig der Regel folgen. Der beurteilende Mensch muss nicht jede Eigenschaft des Wesens des zu beurteilenden Menschen durchschaut haben, um ihn zu kennen. Dem erfahrenen Menschen kann auch nur ein Teil der erwähnten Faktoren zur angemessenen Beurteilung eines Menschen hinreichend sein.

Um ein maßvolles Urteil zu fällen, muss der beurteilende Mensch also genug Wissen besitzen, um den zu beurteilenden Menschen einer Kategorie zuweisen zu können, aber auch das Chaos des Menschen und die eigene Unwissenheit anerkennen. Je mehr Lebenserfahrung der Mensch dabei sammelt, desto einfacher wird es für ihn, dieses Urteil zu fällen.

3. Das Urteil über Dinge

Im Urteilen über Dinge gibt es weniger spezifische Eigenschaften, auf die der beurteilende Mensch achten muss. Viel eher muss er dabei auf seine eigene Denkweise in Bezug auf die Dinge achten.

3.1. Worte und Ordnung

Die erste große, immer wieder erwähnte Thematik, auf die unbedingt geachtet werden muss, ist die Bedeutung und Nutzung von Worten. Denn Worte, die genutzt werden, um Dinge zu beschreiben, ihren Sinn zu erläutern, ihnen eine moralische Wertung zuzuschreiben etc., sind nur ein Werkzeug, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen – keine tatsächlichen „echten“, greifbaren Konstrukte.

Dazu schreibt Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“():

Es giebt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, dass es „unmittelbare Gewissheiten“ gebe, zum Beispiel „ich denke“, oder, wie es der Aberglaube Schopenhauer’s war, „ich will“: gleichsam als ob hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme, als „Ding an sich“, und weder von Seiten des Subjekts, noch von Seiten des Objekts eine Fälschung stattfände. Dass aber „unmittelbare Gewissheit“, ebenso wie „absolute Erkenntniss“ und „Ding an sich“, eine contradictio in adjecto in sich schliesst, werde ich hundertmal wiederholen: man sollte sich doch endlich von der Verführung der Worte losmachen!

Worte selber sind also nicht tatsächlich das, was sie beschreiben – eine simple Erkenntnis, doch eine, die häufig vergessen wird.

Ein weiterer wichtiger Aspekt hinsichtlich der Worte ergibt sich aus ihrer Bedeutung im alltäglichen, menschlichen Leben. Schließlich kommunizieren wir miteinander, denken, erklären und konstruieren wir die Welt mit Worten. Dementsprechend ist eine klare, ordnungsgemäße Kommunikation, Denkweise, Erklärung oder Konstruktion nur mit den richtigen Worten möglich.

Konfuzius dazu in den Gesprächen XIII, 3 () im Gespräch mit seinem Schüler Zi-lu:

(Der Schüler) Zi-lu sprach zu Konfuzius: „Wenn Euch der Herrscher des Staates Wei die Regierung anvertraute — was würdet Ihr zuerst tun?“
Der Meister antwortete: „Unbedingt die Namen richtigstellen.“
Darauf Zi-lu: „Damit würdet Ihr beginnen? Das ist doch abwegig. Warum eine solche Richtigstellung der Namen?“
Der Meister entgegnete: „Wie ungebildet du doch bist, Zi-lu! Der Edle ist vorsichtig und zurückhaltend, wenn es um Dinge geht, die er nicht kennt. Stimmen die Namen und Begriffe nicht, so ist die Sprache konfus. Ist die Sprache konfus, so entstehen Unordnung und Misserfolg. Gibt es Unordnung und Misserfolg, so geraten Anstand und gute Sitten in Verfall. Sind Anstand und gute Sitten in Frage gestellt, so gibt es keine gerechten Strafen mehr. Gibt es keine gerechten Strafen mehr, so weiß das Volk nicht, was es tun und was es lassen soll. Darum muss der Edle die Begriffe und Namen korrekt benutzen und auch richtig danach handeln können. Er geht mit seinen Worten niemals leichtfertig um.“

Aus diesem Zitat gilt es, die wichtigsten Aussagen der Reihe nach herauszuarbeiten.

Um Dinge zu beurteilen, ist es wichtig, die Worte in Ordnung zu halten. Denn diese sind essenziell dafür, die menschliche Welt, welche eben so sehr auf Worten beruht (menschliche Gedankenkonstruktionen, Kommunikation, Kultur etc.), in Ordnung zu halten. Stimmen die Namen der Dinge nicht, ist es sehr viel schwieriger, diese Dinge richtig zu beurteilen.

Ein heute auf den ersten Blick etwas kryptisch wirkendes Zitat aus den Gesprächen VI, 25 ():

Ein viereckiges Gefäß ohne vier Ecken – was für ein sonderbares viereckiges Gefäß ist das!

Die Namen der (zu beurteilenden) Dinge in Ordnung zu halten, ist also von höchster Priorität. Der Nutzen dessen transzendiert das einfache Beurteilen und erstreckt sich bis tief in die gesellschaftliche Ordnung.

Der zweite Aspekt des Beurteilens, den wir aus dem Zitat Konfuzius’ herausarbeiten können, ist Zurückhaltung im Urteil über Unbekanntes. Diese Zurückhaltung findet ihre Begründung in der Art und Weise, die Menschen häufig nutzen, um Urteile zu fällen.

3.2. Kategorien und Kontext

Das Einordnen von Dingen in Kategorien ist eine der großen Stärken des Menschen. Das Kategorisieren lockt den Menschen aber auch immer wieder in Fallen, täuscht ihm Zusammenhänge vor, wo es keine gibt, und blendet die notwendige Individualität einer jeden Sache aus.

Dieses Denkmusters müssen wir uns unbedingt bewusst sein. Gerade wenn es um Dinge geht, die wir nicht kennen, müssen wir uns davor hüten, zu schnell Verbindungen zu ziehen, die uns ein Bild von der zu beurteilenden Sache vermitteln.

Denn der Mensch urteilt häufig übereilt. Er findet in zwei völlig unterschiedlichen Dingen eine Überschneidung und urteilt danach die beiden Dinge gleich. So unterlaufen dem Urteil eines Menschen ständig Fehler.

Ein Beispiel:

Erteilte man einem Kind die Aufgabe, Tomaten zu schneiden, und gäbe diesem Kind dazu ein Küchenmesser und ein Skalpell zur Hand, dann schlösse das Kind vermutlich folgendermaßen: Das Messer und das Skalpell sind beide scharf, beide sind also geeignet, Tomaten zu schneiden. In der Realität verletzte es sich mit dem Skalpell vermutlich selbst und zerstörte das Instrument im Prozess.

Wir sehen also, wie schnell falsche Verbindungen, unverhältnismäßiges Einordnen und Vernachlässigung von Individualität zu einem völlig unangemessenen Urteil führen können.

Erweiternd sagt Konfuzius dazu in den Gesprächen VI, 6 ():

Nehmen wir einmal an, ein Kalb hat rotbraunes Fell und gleichmäßige Hörner, aber die Menschen wollten es nicht, weil es das Kalb einer scheckigen Kuh ist – würden es etwa darum die Geister der Berge und Flüsse ablehnen?

Dabei ist dieses stark einordnende Denken für den Menschen häufig von Vorteil. Das Erkennen von Mustern hilft dem Menschen dabei, interdisziplinär Wissen einzusetzen, schneller zu lernen, wenn er schon einmal eine ähnliche Fähigkeit erlernt hat, und Erlerntes weniger schnell zu vergessen, da diese Fähigkeiten an verbundenen Punkten in seinem Kopf verankert sind.

Außerdem ist das Kategorisieren eine Überlebenssicherung für unsere mentale Kapazität. Denn sobald wir beginnen, jedes Ding, jeden Menschen, so individuell und bis in alle Einzelheiten zu betrachten, wie sie in der Realität sind, müssen wir einen enormen Energieaufwand aufbringen, nur um unsere Umgebung zu verarbeiten. Denn schließlich ist jedes Blatt, jeder Grashalm, jedes Sandkorn unterschiedlich. Ohne das Einordnen in Kategorien sind wir schlicht überfordert.

Zusammenfassend müssen wir nun das Maß und die Mitte in diesen Denkweisen des Menschen suchen, da sowohl übermäßiges Kategorisieren als auch übermäßiges Individualisieren zu unangemessenen Urteilen führen.

Zusammenfassend müssen wir nun das Maß und die Mitte in diesen Denkweisen des Menschen suchen, da sowohl übermäßiges Kategorisieren als auch übermäßiges Individualisieren zu unangemessenen Urteilen führen.

Daher gilt die bildliche Regel: Beurteile ein Reich wie ein Reich, eine Hauptstadt wie eine Hauptstadt, ein Dorf wie ein Dorf.

Hier finden wir Maß und Mitte, und können lernen, Dinge und Menschen angemessen zu beurteilen.

4. Die Basis eines guten Urteils

4.1. Der Urteilende

Abschließend soll der Urteilende selbst, als Basis eines jeden Urteils, seine Erwähnung finden. Denn der Urteilende fungiert als eine Art Filter für die Außenwelt. Wenn der Urteilende selbst also emotional angeschlagen oder erschöpft ist, werden seine Urteile diesen Zustand reflektieren.

So ergibt sich für das Individuum die Aufgabe der persönlichen Vervollkommnung. Hat der Urteilende sein Maß und seine Mitte gefunden, kann er sich im Einklang mit sich selbst ein angemessenes Urteil zu Menschen und Dingen bilden.

Hat der Urteilende selbst weder Maß noch Mitte gefunden, ist es für ihn schwierig, ein maßvolles Urteil zu fällen. Denn das Urteil wird letztendlich immer die Färbung des Urteilenden annehmen.

Ein kurzes Beispiel zum Urteilen über Menschen:

Person X ist mit sich selbst grundlegend unzufrieden. Im Urteil über einen Menschen sieht sie ein Urteilskriterium, welches Person X an ihre eigene Unzufriedenheit erinnert. Nun verbindet Person X also dieses Urteilskriterium mit der eigenen Unzufriedenheit. Ihr Urteil über diese Person wird fortan von der eigenen Unausgeglichenheit fehlgeleitet.

Auf diese Weise mag ein unausgeglichener Mensch also fehlgeleitete Urteile über andere Menschen fällen. Auch kann er beispielsweise gewissen Urteilskriterien mehr Aufmerksamkeit schenken als anderen, oder zu sehr kategorisieren. Die Variationen falscher Urteile sind mannigfaltig, die Ursache liegt aber immer in der Unausgeglichenheit.

Ein kurzes Beispiel zum Urteilen über Dinge:

Person X möchte sich einen neuen Laptop kaufen. Sie ist begeistert und voller Vorfreude über den bevorstehenden Kauf. Der Laptop, den sich Person X ausgesucht hat, erfüllt nicht alle nötigen Kriterien, und für Person X wäre es angemessen, noch einige Zeit zu warten und sich einen anderen Laptop zu suchen. Von Ungeduld und Vorfreude erfüllt, kauft Person X den Laptop trotzdem. Damit fällt Person X ein unangemessenes Urteil über den Kauf des Laptops.

Auf diese Weise mag ein unausgeglichener Mensch also fehlgeleitete Urteile über Dinge fällen. Auch hier sind viele weitere Wege zu einem unangemessenen Urteil möglich, wieder liegt die Ursache aber in der eigenen Unausgeglichenheit.

Auf dem Weg zu innerer Harmonie wird der Mensch viele unangemessene Urteile fällen. Mit fortschreitender Bildung, fortschreitender Annäherung an seine eigene Natur und dem Ausgleichen von Natur und Bildung aber werden auch die Urteile des Menschen angemessener.

Ist der urteilende Mensch sich also über die Lehre des Urteilens, die Worte, die eigene Denkweise und das Selbst bewusst, kann er angemessene Urteile über Menschen und Dinge schaffen und damit seinem Leben und dem von anderen Menschen Ordnung bringen.

15 Jun 2025

Footnotes

  1. Zur Übersicht: Fan Chi und Zi-Xia sind Schüler des Konfuzius. Kaiser Shun ist ein legendärer Kaiser des chinesischen Altertums. Gao-yao ist ein edler Zeitgenosse Shuns. König Tang gilt als der Begründer der Shang-Dynastie (16. Jh. v. Chr.).

  2. Der erste Eindruck, den sich jeder Mensch über andere Menschen und Dinge macht, ist hierfür ein guter Beleg. Er wird ständig getroffen, kann schon innerhalb einer Zehntelsekunde entstehen und sich hartnäckig auch gegen jede Angemessenheit halten. [@willis2006first] Ein Konstrukt zu schaffen, anhand dessen auch erste Eindrücke haltbarer wird, ist also von höchster Priorität.

  3. Dies ist auch ein großes Thema im Konzept der persönlichen Wahrheit. Stimmen Gedanken, Worte und Taten überein, dann hat der Mensch seine persönliche Wahrheit gefunden.

  4. Aus diesem Gedankenhintergrund schrieb Arthur Schopenhauer seine Abhandlung „Die Kunst, Recht zu behalten“. In welchem offengelegt wird, wie einfach es ist, Worte zu nutzen, Worte zu nutzen, ohne die Intention, tatsächlich einen validen Punkt zu vertreten, sondern vielmehr in einem Streit Recht zu behalten.

  5. Dazu findet sich in den Gesprächen XII, 19 der direkte Kommentar: „Wieso müsst ihr töten, wenn ihr regiert? Ihr müsst das Gute nur wirklich wollen, dann wird auch das Volk gut werden.“

  6. Dabei besteht das Risiko, dass dem möglichen Chaos des Menschen und der eigenen Unwissenheit dem beurteilenden Menschen im Alter, mit fortschreitender persönlicher Festigung, weniger bewusst wird oder bewusst ignoriert wird.

  7. Zur Erläuterung entsteht auf die beispielhafte Diskussionsfrage: „Kann Selbstsicherheit aus Angst entstehen?“ oder, noch überspitzter formuliert: „Kann Sicherheit aus Unsicherheit entstehen?“, ein ganz neuer Blickwinkel. Denn ein Ding kann sehr wohl aus seinem Gegenteil entstehen. Schließlich ist das Konzept des Gegenteils nicht mehr als ein erdachtes Konzept, fernab von der Wirklichkeit, die bei dem Gefühl der Selbstsicherheit zum Tragen kommt.

  8. Ich übernehme hier die Erklärung des Sinologen Ralf Moritz: „Gemeint ist eine bestimmte Sorte von Opfergefäßen, die viereckig waren und als gu bezeichnet wurden. Inzwischen hatten diese Gefäße ihre Gestalt verändert, die Bezeichnung gu war aber geblieben. Für Konfuzius ist nun gu nicht mehr gu.“ Wir finden einen ähnlichen Konflikt in unserer Zeit in der Bezeichnung von „linker“ oder „rechter“ Politik, deren Bedeutung sich seit ihrer Namensgebung in der französischen Nationalversammlung stark gewandelt hat. Die Nutzung dieser Termini führt inzwischen häufig zu Konflikten.

  9. Also: macht es das Fell des Kalbs deswegen weniger rotbraun und seine Hörner weniger gleichmäßig?

  10. Dies ist eines der Probleme mit modernen Geschlechter- und Sexualitätsbewegungen. Sie verlangen von jedem Menschen einen enormen Energieaufwand, da die Individualität jedes einzelnen Aspekts übermäßig betont werden muss. Jede Person hat eigene Pronomen, Bezeichnungen, neue Namen für bereits bestehende Konstrukte etc.

Bibliography

Kong, Q., & Moritz, R. (1982). Konfuzius: Gespräche (Lun-Yu).
Nietzsche, F. W. (1999). Jenseits von Gut und Böse: Zur Genealogie der Moral (Bd. 5). Museum Tusculanum Press.
Willis, J., & Todorov, A. (2006). First impressions: Making up your mind after a 100-ms exposure to a face. Psychological science, 17(7), 592–598.
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